Die endokrine Streßreaktion in Anästhesie und Chirurgie - Ursprung und Bedeutung

Abstract
Streß kann als „Reaktion von Lebewesen auf relevante Beeinträchtigungen jeglicher Art” definiert werden. Der aktuelle Streßkonzept beruht u. a. auf den Arbeiten von Cannon und Selye. Cannon beschrieb die Rolle der Katecholamine im Streß und die damit verbundene Kampf- oder Fluchtreaktion. Selye betonte die Rolle der Glukokortikoide und definierte Streß als „Allgemeines Adaptationssyndrom” mit drei zeitlich aufeinanderfolgenden Phasen (Alarmreaktion, Phase des Widerstandes, Phase der Erschöpfung). Daraus entwickelte Henry ein aus zwei Hauptkomponenten bestehendes, duales Streßkonzept. Im Zentrum der akuten und aktiven Reaktion stehen die Katecholamine und das ADH. Die Aktivierung der Adenohyophysen-Nebennierenrinden-Achse stellt dagegen eine langsamere Antwort mit der Zielrichtung Ertragen und Anpassung dar; diese gilt als Zeichen des Kontrollverlustes in der Auseinandersetzung mit dem Stressor, insbesondere im sozialen Zusammenhang. Als valide endokrine Streßparameter können Adrenalin, Noradrenalin, ADH, ACTH und Cortisol gelten. - In der perioperativen Phase werden beide Komponenten der Streßanwort aktiviert. Die wichtigsten Faktoren sind der Patient, die Operation sowie das Anästhesieverfahren. Das Anästhesieverfahren kann die endokrine Streßantwort über eine afferente Blockade (Lokalanästhesie), eine zentrale Modulation (Allgemeinanästhesie) und durch periphere Interaktionen mit dem endokrinen System (Etomidat) beeinflussen. Bis heute ist eine totale Blockade des nozizeptiven Systems unmöglich, dies ist u. a. auf das chirurgische Vorgehen mit Durchtrennung von Nervenfasern und auf die Freisetzung von Mediatorsubstanzen zurückzuführen. - In der Reduzierung der endokrinen Streßantwort gilt die Inhalationsanästhesie als weniger wirksam wie die Neurolept-, Spinaloder Periduralanästhesie. Unmittelbar nach der Extubation kommt es zu schnellen Anstiegen aller endokrinen Parameter. Halothan und Enfluran behindern zusätzlich zu ihrer zentralen Wirkung die Katecholaminfreisetzung aus der Nebennierenrinde. Die Neuroleptananästhesie und die Totale Intravenöse Anästhesie erlauben durch ihre hohe Potenz auch bei schwerwiegendsten Eingriffen eine suffiziente Kontrolle der Streßantwort. Die Spinal- und Periduralanästhesie können allein oder als Kombinationsanästhesie die Streßantwort unerwünscht stark unterdrücken. Ursachen sind die Sympathikolyse und eine Beeinflussung der Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse durch Blockade spinaler Afferenzen. Über die Streßantwort unter Infiltrations- und Leitungsanästhesie sind nur wenige Daten verfügbar, eine zusätzliche Sedierung scheint jedoch Vorteile zu bieten. Periphere Interaktionen mit dem endokrinen System wie im Falle von Etomidat sind grundsätzlich unerwünscht und können gefährlich sein. - Die endokrine Streßantwort in Anästhesie und Chirurgie wird gegensätzlich bewertet. Die Reaktionen reichen von der Ignorierung des Problems bis zum Ruf nach „streßfreier Anästhesie”. Die Streßantwort ist in ihren Ursprüngen eine physiologische Reaktion, die eng mit dem Begriff „Leben” verbunden ist. Eine totale Unterdrückung ist nicht hilfreich und kann zu ernsthaften Problemen führen; andererseits muß eine überschießende endokrine Streßantwort verhindert werden. Ziel des anästhesiologischen Vorgehens ist die Bewahrung und Nutzung einer moderaten endokrinen Streßreaktion unter Ausnutzung der physiologischen Regulationsmöglichkeiten des Organismus. Stress can be defined as a "reaction by living beings to any relevant impairment". The effect of anaesthesia on endocrine function is closely related to the actual stress concept based on the works by Cannon and Selye. Cannon described the role of catecholamines in stress and characterised the fight-flight reaction. Selye emphasised the role of the adrenocortical reaction defining the "general adaption syndrome", which evolves in three stages ("alarm reaction", "stage of resistance", "stage of exhaustion"). Later, Henry postulated the dual stress concept. The sympathetic-adrenomedullary system is activated during the fight-flight reaction, thus representing an active role of the organism. The pituitary-adrenocortical system is activated during loss of control, submission and depression, especially in a social context. Main valid parameters of this endocrine stress response are adrenaline, noradrenaline, ADH, ACTH and cortisol. - In the perioperative period, both pathways are "stressed". The most important factors are patient, operation, and anaesthesia. Anaesthesia can influence the stress response by afferent blockade (local anaesthesia), central modulation (general anaesthesia) or peripheral interactions with the endocrine system (etomidate). Up to now, a total peripheral blockade of the nociceptive system is impossible, due to surgical technique (destruction of nerve fibres) and release of mediator substances. - With regard to reduction of endocrine stress response, inhalation anaesthesia with volatile anaesthetics and nitrous oxide may be less effective than neuroleptic, spinal or epidural anaesthesia. Immediately after extubation, rapid increases of endocrine parameters are observed. In addition to central modulation of pain and stress, both halothane and enflurane inhibit catecholamine release from the adrenal medulla. Neuroleptic anaesthesia and total intravenous anaesthesia are very potent and sufficient to control the increases in endocrine parameters even during major...