Migration und Kultur als Determinanten diagnostischer und therapeutischer Prozesse bei seelisch erkrankten Migranten

Abstract
Vorgestellt wird eine systematische Differenzierung von kultur- im Unterschied zu migrationsspezifischen Einflussfaktoren auf den diagnostischen und therapeutischen Prozess. „Kulturspezifisch” bezieht sich auf Besonderheiten aufgrund der Werte, Verhaltensnormen und Glaubenseinstellungen der sozialen Gemeinschaft, aus der eine Person stammt. „Migrationsspezifisch” beschreibt Konsequenzen, die sich aus der Verlagerung des Wohnsitzes in ein anderes Land ergeben: z. B. Trennungen und Verluste, Heimweh, aufenthaltsrechtliche Bedingungen und unsichere Zukunftsperspektiven. Vor dem Hintergrund einer theoretischen Fundierung dieser Determinanten wurden entsprechende Kategorien für eine qualitative Inhaltsanalyse definiert. Diese wurden für die Untersuchung von Behandlungsdokumentationen von n = 55 Migranten der 1. Generation, die in der psychiatrischen Tagesklinik einer Universitätsklinik behandelt wurden, angewendet. In Aufnahmeanlass, Symptomatik und Krankheitsverarbeitung sowie Therapie und Verlauf finden sich Hinweise auf kultur- und migrationsspezifische Prägungen. Die Resultate dieser Studie lassen vermuten, dass Migrationserfahrung nicht nur als Belastungsfaktor in der Genese einer psychischen Erkrankung zu konzipieren ist, sondern ihr in der Gestaltung der konkreten Behandlungssituation unter Umständen mindestens genauso viel Relevanz zukommt wie der häufig benannten kulturellen Differenz: In der Zusammenfassung der qualitativen Inhaltsanalyse zu kultur- und migrationsspezifischen Aspekten pro Patient über den gesamten Behandlungsverlauf zeigte sich, dass der Dokumentation zufolge mehr Fälle durch Aspekte der Migrationsbiografie beeinflusst waren als durch kulturell bedingte Besonderheiten. A systematic differentiation of culture- in contrast to migration-related influence factors in diagnostic and therapeutic processes is introduced. „Culture-related” refers to characteristics caused by values, behavior norms and religious attitudes of the ethnic community a person belongs to. „Migration-specific” refers to consequences of moving one's residence from one country to another (e. g., absence of familiy, trouble with authorities concerning the legal status or ambivalence with respect to returning to the home country). Based on a theoretic background of these determinants, categories for a content analysis were defined and applied to the treatment records of n = 55 first generation immigrants treated in a psychiatric day clinic of an university hospital. The results suggest that migration biography should not only be considered as affecting vulnerability in the genesis of a mental illness, but rather be classified as a factor of at least as much relevance for therapeutic situations as the usually named cultural diversity: summarizing the results of the qualitative content analysis of the entire treatment courses more cases were influenced by migration specific aspects rather than culture specific aspects.