Abstract
Heyms Prosatexte Die Novella der Liebe (1907), Kleines Viaticum für eine Dame (1910/11), Der Höhenmesser zeigte… (1911) und Das Geheimnis der Liebe (1911)1 befassen sich mit Erscheinungs- und Ausdrucksformen der Liebe zwischen Mann und Frau. Sie thematisieren dabei, in unterschiedlicher Gewichtung, sinnlich-erotische Bedürfnisse und Erlebnisse sowie gesellschaftliche und moralische Normen, denen das Handeln der Liebenden unterliegt oder die von ihnen überschritten werden. Mit dieser Themenwahl haben die Texte aus Heyms Nachlass sicher an der ,,erotischen Rebellion“ der literarischen Bohème im frühen 20. Jahrhundert teil.2 Zugleich verknüpfen sie die ,erotische Rebellion‘ mit vitalistischen Denk- und Ausdrucksformen, wodurch sie sich mit dem literarischen Expressionismus verbinden lassen.3 Wie stark Heyms literarisches Werk von vitalistischen Gedanken und Bildern geprägt ist, ist seit Gunter Martens’ Untersuchung bekannt.4 Im hier untersuchten Nachlasskorpus bilden Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau einen vitalistischen Topos: Die erotische Liebe erscheint als lebenssteigernde Erfüllung sinnlicher Bedürfnisse, zugleich als vitalisierte Todesmacht; beide Erscheinungsformen des erotischen Vitalismus werden als sinnhafter Ausdruck und Beglaubigung des machtvollen Lebensprozesses gedeutet. Hermann Korte warnt davor, vitalistische Perspektiven bei Heym bereits als politische oder gesellschaftliche Kritik zu begreifen.5 Dennoch, so die hier verfolgte These, kann man den sich in diesen Nachlasstexten manifestierenden erotischen Vitalismus als Herausforderung an die lebensunterdrückenden Wertvorstellungen der zeitgenössischen Kultur, v.a. die Normen der bürgerlichen Sexualmoral, verstehen. Ein Blick auf die Frauen- und Männerbilder in diesen Texten soll darüber hinaus zeigen, wie der antibürgerliche erotische Vitalismus mit Geschlechterstereotypen umgeht und ob seine Ausdrucksformen in der Nachlassprosa auch ästhetische Konventionen herausfordern.