An Beziehungsarbeit darf nicht gespart werden

Abstract
PiD: Susan, Ihr Name verbindet sich mit Begriffen wie „Familientherapie in der Medizin”, aber auch mit „Systemischer Familienmedizin” (family systems medicine) und mit dem fast nicht ins Deutsche zu übersetzenden Begriff „collaborative family health care coalition”. Wie würden Sie zwischen diesen Begriffen unterscheiden? S. McDaniel: Es gibt tatsächlich viele Begriffe, die im Rahmen dieser Arbeit entstanden sind, jeder von ihnen beinhaltet eine etwas andere Akzentuierung. Systemische Familienmedizin ist dabei wohl der umfassendste Begriff, er bezieht sich auf jede Anwendung der Familiensystemtheorie und der daraus abgeleiteten Praxis in der Medizin. Das muss dabei überhaupt nicht Familientherapie im engeren Sinn sein! Möglicherweise kennen Sie Doherty und Baird’s: „Levels of Involvement of Physicians with Families”, in der die unterschiedlich intensive Einbeziehung der Familie in die medizinische Versorgung beschrieben wird[ 2 ]. Stufe 2 beschreibt beispielsweise eine Praxis, bei der in einer Klinik der Familie medizinische Informationen gegeben werden. Stufe 3 bezieht dann die Gefühle mit ein, die sowohl der Patient als auch die Familienmitglieder in Bezug auf die Krankheit und die Behandlung haben. Stufe 4 bedeutet eine komplexere Einschätzung des familiären Behandlungsbedarfs, z. B. ob die Familie einbezogen werden muss, wenn es darum geht, ein Pflegeproblem zu verstehen und zu lösen oder darum, in einer kardiologischen Behandlung einen Plan für die Rehabilitation nach der Klinikentlassung zu erstellen. Nur die Stufe 5 betrifft die Familientherapie im engeren Sinne, also Psychotherapie mit Patienten und ihren Familien. Der Begriff „Systemische Familienmedizin” beinhaltet also die familienorientierte medizinische Grundversorgung, Interventionen auf den verschiedenen Ebenen des Modells und auch eben „medizinische Familientherapie”, um noch einen neuen Begriff einzuführen. PiD: Verbinden sich mit diesen Begriffen auch Entwicklungsstufen in Ihrer eigenen persönlichen Entwicklung? S. McDaniel: Allerdings - ich begann 1982 familienmedizinisch mit Patienten zu arbeiten, das war in einer Abteilung für Familienmedizin an der Universität von Rochester. Ich war als Klinische Psychologin ausgebildet, dann als Familientherapeutin, und ich war eingestellt worden, weil die Fakultät interessiert daran war, Familientherapie in der unmittelbaren medizinischen Versorgung einzusetzen und dieses Vorgehen zu evaluieren. Ich entdeckte, dass es sehr viel zu tun gab, aber die direkte Anwendung von Familientherapie (Stufe 5) machte für die praktizierenden Hausärzte in der Regel keinen Sinn. 1983 begann ich dann mit Tom Campbell zusammenzuarbeiten. Es ging uns darum, aus der Familiensystemtheorie einen praktikablen Ansatz für die medizinische Grundversorgung zu entwickeln. Das Buch „Family-Oriented Primary Care”[ 2 ] berichtet über unser Curriculum für Studenten, die Hausärzte werden wollten. Dieses Buch ist auf englisch und spanisch erschienen. Tom Campbell, Jeri Hepworth, Alan Lorenz und ich sind gerade dabei, dieses Buch zu überarbeiten, 2002 wird es auch auf koreanisch erscheinen. Gegen Ende der 80er Jahre hatte ich nach sechs intensiven Arbeitsjahren, in denen wir daran gearbeitet hatten, Familiensystemtheorie in die Versorgung einzubringen, das Gefühl, eine Ahnung davon zu haben, was Ärzte über psychosoziale Themen wissen müssten und vor allem, wie sie ihr Wissen umsetzen sollten. Gleichzeitig wurde mir klar, dass, während wir an der Implementierung eines biopsychosozialen familienorientierten Ansatzes in der Medizin gearbeitet hatten, die große Mehrheit meiner Psychotherapeuten-KollegInnen überhaupt nicht aus einer biopsychosozialen Perspektive heraus handelte. Sie waren eher „psychosozial fixiert”, sie (be)handelten, als ob Menschen wohl Geist und Seele, aber keine Körper hätten. Ich begann, mich dafür zu interessieren, „auf der anderen Seite der Straße” zu arbeiten, d. h. ich brachte das „biopsychosoziale Evangelium” zu meinen Kollegen aus den psychosozialen Berufen. Im Gespräch mit Jeri Hepworth und Bill Doherty auf einer Family Process Konferenz in Costa Rica wurde deutlich, dass wir viele ähnliche Ideen hatten. Aus dieser anfänglichen Diskussion entstand unser Buch „Medical Family Therapy: a Biopsychosocial Approach to Families With Health Problems”. Es hat uns sehr gefreut, dass dieses Buch einige Zeit später ins Deutsche übertragen wurde[ 3 ]. Noch eine Bemerkung zum Thema Begriffe: Unsere interdisziplinäre Zeitschrift hieß anfangs „Family Systems Medicine”. Dieser Titel kam gut an bei Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern in den USA, aber die Pflegekräfte waren verärgert. Sie hatten das Gefühl, dass „Medizin” etwas ist, das Ärzte tun, und dass dieser Begriff sie ausschloss, trotz ihrer großen Beiträge zur Praxis und Forschung familiensystemisch orientierter Medizin. Aus diesem Grund, also um die Multidisziplinarität dieses Konzeptes hervorzuheben, wurde der Titel der Zeitschrift 1996 geändert in „Families, Systems & Health”. Zu der Zeit übernahmen Tom Campbell und ich von Don Bloch die Aufgabe, die Zeitschrift herauszugeben. Möglicherweise ist dies nun mehr über all diese Begriffe, als Sie überhaupt wissen wollten. PiD: Was würden Sie als zentrale Aufgaben und Fähigkeiten ansehen, die Psychotherapeuten brauchen, wenn sie im Feld der chronischen Krankheiten tätig werden? S. McDaniel: Das ist eine große...